Kritiken zu „das verordnete Geschlecht“

aus: taz-berlin, Kulturteil vom 14.9.2002

Zuschnittsnormen

Filme über Hermaphrodismus  im Babylon Mitte

Die geschlechtliche Ordnung ist eine gewaltige und gewalttätige Fiktion. Nicht einmal mit vermeintlich eindeutigen Vorgaben, wie sie die Genetik liefert, lassen sich binäre Kategorien rechtfertigen. „Ohne eindeutige Geschlechtsmerkmale“, so lautet der Personenstandsbefund kurz nach der Geburt eines „intersexuellen“ Wesens und löst damit eine Vielzahl von Überlegungen und Entscheidungen aus. Die Eltern sind unsicher und bestürzt, die Ärzte treten dazwischen, und so bildet sich ein scheinbar informelles Kartell, das nur „das Beste“ will und das Kind also einer Korrektur, Verstümmelung, im Grunde einer Geschlechtsumwandlung unterzieht.

An der Intersexualität zeigt sich vor allem eines: Wie dominant diese Ordnungen (noch) sind, wie wenig die Traumatisierung berücksichtigt wird, die sich aus der gewaltsamen Zuschneidung des Geschlechts ergibt. Das ist auch die Ausgangslage der Dokus „Das verordnete Geschlecht“ von Oliver Tolmein und Bertram Rotermund und „Hermaphroditen – eindeutig zweideutig“ von Ilka Franzmann.

Die Autoren haben Gesprächspartner gefunden, deren Porträts dieser Traumatisierung ein eindrucksvolles Gesicht geben. Da ist es nicht erstaunlich, dass die Ärzte nicht so gut wegkommen. Sie werden als hartnäckige Normierungsschinder gezeigt wie in Franzmanns Film die französische Ärztin, die als Einzige ungebrochen für das Zurichten, Erziehen und Entscheiden eintritt. Oder bei Tolmein/Rotermund als beinahe schwachsinnige Spezialisten, die von Männchen und Weibchen sprechen, wenn sie an Plastikmodellen Geschlechtsteile hin- und herschieben.

Allerdings verharren vor allem Tolmein/Rotermund nicht beim tiefen Seufzer über die Untaten der Endokrinologie. Ihr Glück war es, sehr aufgeweckte und heitere Gesprächspartner zu finden, die für ein auch politisiertes Verhältnis zum eigenen Körper stehen. Mit Michel Reiter konnten die Autoren den Kampf um Anerkennung des geschlechtlichen Status verfolgen oder viele kühle Kommentare zu herrschenden medizinischen Verfahren abschöpfen: „Sie wollen einen vor allem fickfähig machen.“ In Reiters Fall wurde dieses Ziel aber verfehlt. Die Kohabitation scheitert bei ihm nicht nur an fehlender Lubrikation, sondern vor allem am nachhaltig gestörten Körpergefühl. Das Gegenteil ist bei Elisabeth Müller der Fall. Die nicht nur musikalische Stütze ihrer Kirchengemeinde wurde durch eine Gesangsausbildung in eine fast offensive Körperlichkeit gezwungen, einen uneingeschränkten, sozusagen ehrlichen Umgang mit Organen, Knochen und Muskeln. Dadurch wurde ihr nicht nur klar, dass sie männliche Körperteile wie den Hodenzugmuskel besitzt, sondern wie sie diesen nutzen kann.

Hier zeigt sich aber auch, dass die Linien von Verantwortung und Schuld nicht immer eindeutig verlaufen. In Müllers Fall waren es nicht Eltern und Ärzte – sie selbst entschied sich für die Operation, aus ganz pragmatischen Gründen. MANFRED HERMES

 

aus: Tagespiegel, Kultur-Teil vom 12.9.2002 

Citylights

Mit offenen Augen und Ohren für die Vielfalt menschlicher Lebensmöglichkeiten kommen zwei Filme daher, die sich dem „Leben zwischen den Geschlechtern“ widmen, wie es in der Ankündigung heißt. Eines von zweitausend Kindern wird nämlich ohne eindeutige Zuordnung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht geboren, sei es in der Anordnung der Geschlechtsorgane oder hormoneller Nichtübereinstimmung. Immer noch werden diese Uneindeutigkeiten im frühesten Kindesalter operativ korrigiert, oft mit zweifelhaftem Erfolg. Doch immer mehr Menschen bekennen sich zu ihrer Intersexualität. Auch in den Filmen – beides ursprünglich Fernsehproduktionen – kommen neben Eltern und Ärzten penis-amputierte xy-Frauen und Menschen mit „zweifelhaften Genitalien“ zu Wort.

Hermaphroditen – eindeutig zweideutig von Ilka Franzmann konfrontiert Interviews aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem tieferen Einblick in eine Familiengeschichte, die aus Verschweigen und Verdrängen besteht. Das verordnete Geschlecht von Oliver Tolmein und Bertram Rotermund richtet die Aufmerksamkeit stärker auf den Kampf gegen medizinische und juristische Bevormundung, den einige Aktivisten neuerdings begonnen haben, etwa in der Kampagne für den „Zwitter“ als dritte Geschlechtsvariante in der Personalbürokratie. Sonnabend, Sonntag und Mittwoch im Babylon-Mitte. Silvia Hallensleben

 

Aus: Konkret, Heft 2, 2002

Geschlecht? Keins.

Die meisten Denk- und Verhaltensweisen sind in unserer Gesellschaft geschlechtlich konnotiert, entweder männlich oder weiblich. Die Annahme, es gebe ein über die binäre Geschlechterordnung hinausgehendes Geschlecht oder gar Geschlecht sei per se gemacht und nicht „natürlich“ gegeben, rührt nach wie vor an ein Tabu. Personen, die ohne eindeutiges Geschlecht geboren sind, – im Volksmund Zwitter – werden zumeist bedauert, kann doch bei ihnen die allererste Frage „was ist’s denn?“ nicht befriedigend beantwortet werden. Sie werden pathologisiert, und folglich zielen alle medizinischen und psychologischen Therapiemaßnahmen darauf, operativ ihr Geschlecht im Sinne einer „gelungenen“ Anpassung an die Normalität zu vereindeutigen. Daß der menschliche Körper immer in Abhängigkeit zur geschlechtlichen Norm wahrgenommen wird, bedeutet auch, daß anders Geborene oder anders Empfindende immer nur als Abweichung von dieser Norm betrachtet werden. 

Die feministische Geschlechterforschung hat die Dichotomie der Geschlechter im Grundsatz kritisiert und das Geschlechterraster sowohl für die Hegemonie einer „männlichen“ Norm verantwortlich gemacht als auch für das hierarchische Geschlechterverhältnis. Selten jedoch gab es unter Feministinnen eine Rekurs auf Intersexuelle, die von Geburt an nicht in dieses Raster passen wollen, ein gewisses Bündnis besteht erst seit Mitte der 90er Jahre. (….)

Die ersten operativen Geschlechtszuweisungen, seit Ende der 50er Jahre routinemäßig vorgenommen, werden bereits im Alter von ein bis zwei Jahren durchgeführt, damit eine geordnete Sozialisierung des Kindes gewährleistet sei. Sie stellen für die Ärzteschaft nicht zuletzt eine einträgliche Beschäftigung dar, da bis zur Pubertät zumeist eine große Anzahl von Eingriffen ansteht, darüber hinaus müssen Hormone verabreicht und die physische und psychische Entwicklung regelmäßig kontrolliert werden. Von besonders schmerzhafter und traumatisierender Wirkung ist die sogenannte Bougierung. Dabei wird die künstlich hergestellte Vagina mit Hilfe von penisartigen Werkzeugen gedehnt und geweitet, damit der verweiblichte Körper „kopulationsfähig“ wird. (…)

In der Dokumentation „Das verordnete Geschlecht“ von Oliver Tolmein und Bertram Rotermund erzählen Michel Reiter und Elisabeth Müller, eine XY-Frau, von dem, was sie in der Familie, bei Ärzten und auf Behörden durchgemacht haben. Reiters Krankenakte berichtet: „Mehrfache schmerzhafte Kohabitationsversuche haben ebensowenig ausrichten können wie die Einführung eines Vibrators, der in 20 cm Länge und 4 cm Durchmesser als der kleinste präsentiert wird .. Wenn auch unter Protest, so ließ sich doch recht (?) eine Prothese von 3 cm Durchmesser einlegen.“ Auch Müller, der im Kindesalter Hoden wegoperiert wurden, begreift sich heute nicht unbedingt als Frau, immerhin hat sie sich aber mit ihrem Körper angefreundet. Stolz spricht sie davon, daß sie in ihrem Beruf als Sängerin mit ihrem Hodenzug arbeitet. Die intimen Berichte der Betroffenen kontrastieren die Filmemacher sehr wirkungsvoll mit den schulmeisterlichen Belehrungen der Mediziner, deren mechanistisches Menschenbild gleichermaßen ihr Verständnis von Sexualität entlarvt. Bisweilen erlangt die eifrige Rede der Chirurgen über die plastischen Möglichkeiten, Geschlechter herzustellen, tragikomische Effekte. Dazwischen geschaltete OP-Szenen, die plump mit klingenschleifenden Geräuschen unterlegt sind, hätte der Film allerdings nicht nötig gehabt.

Reiters verwaltungsrechtliche Auseinandersetzung um den von ihm gewünschten Eintrag „Zwitter“ in seinen Paß zieht sich wie ein roter Faden durch den Film und steht gerade am Ende so sehr im Vordergrund, daß man glauben könnte, alles wäre gut, wenn er den Eintrag bekäme. Der Streit überdeckt die radikale Kritik an der Geschlechterordnung, die Reiter in der Mitte des Films formuliert und die impliziert, daß prinzipiell an der Abschaffung der Geschlechterkategorien zu arbeiten wäre. (….) Einem Film über ein so selten behandeltes Thema ist eine große Verbreitung zu wünschen. Bislang nur in kleinerem Rahmen gezeigt, wird diese sehenswerte Dokumentation hoffentlich nicht noch lange auf einen Verleih oder einen guten TV-Sendeplatz warten müssen. Connie Uschtrin

 

aus: taz Hamburg Nr. 6604 vom 19.11.2001

Gewalttätige
Normierung

Über 200 Seiten lang ist der Schriftwechsel, den Michel Reiter von seinen ÄrztInnen überreicht bekommen hat. Nun kann er damit tun, was er will. Also verliest er ihn, im Gebirge, vor laufenden Kameras. Zerrt so ans Licht, was als Aktennotiz zirkulierte. „Acht mal zwei Zentimeter passt nicht“, steht da beispielsweise geschrieben. „Aber wir sind auf dem besten Weg, die Möglichkeit der Kohabitation wieder herzustellen.“ Nach ärztlicher Ansicht sollte Michel Reiter eine „richtige“ Frau werden. Beischlaffähig. Mit einer Vagina, die breit genug ist für die Erfüllung des genitalen Heterosextraums.

Erreicht haben die MedizinerInnen ihr Ziel nicht. Michel Reiter schläft nicht mit Männern. Zum einen erinnert es ihn an die ärztlichen Eingriffe, die mit Dildos und anderen penisartigen Gegenständen seine Vagina zu weiten versuchten. Das hat Michel Reiter als Vergewaltigung empfunden. Zum anderen erinnern ihn Schwänze schmerzhaft daran, dass er selbst einmal einen besaß. Vor den Operationen. Denn Michel Reiter wurde intersexuell geboren, wie jedes zweitausendste Kind. Auch heute entkommt niemand der medizinisch-chirurgischen Geschlechtsnormierung. (…)

Dabei bietet die Geschichte von Michel Reiter – aber auch von Elisabeth Müller, die ebenfalls in dem Film Das verordnete Geschlecht zu Wort kommt -, andere Denkmöglichkeiten an. Die Angst der Eltern, das durch Operation neu gewonnene Mädchen könne plötzlich jungenhafte Züge annehmen, erweist sich als einschränkender als ein ungewöhnlicher Körper. Mit diesem kann man umgehen, mit der gesellschaftlichen Furcht vor Normüberschreitung nicht. Gleichzeitig zeigen die Biographien von Reiter und Müller, dass Intersexualität keineswegs wegoperiert werden kann. Als Spüren der Andersartigkeit, etwa durch Ausbleiben der Regel, bleibt die Besonderheit des Intersexuell-Seins bestehen. Undramatisch wäre das Ungewöhnliche, wenn es nicht den Zwang zum eindeutigen Geschlecht gäbe.

Elisabeth Müller lacht, wenn sie von ihren Gesangsstunden erzählt. „Ich sage, dass ich den Hodenstrang anspannen muss, um gut zu singen.“ Manche ihrer MitstreiterInnen im Chor schauen sie dann merkwürdig an. Aber für sie ist es wichtiger, zu sich selbst zu stehen. So zeigt Das verordnete Geschlecht auf, dass die Normierung von Körpern gewalttätig ist und man fragen sollte, ob abweichende Körper der Korrektur bedürfen. Vielleicht sind es gesellschaftliche Vorstellungen, die vielmehr der Veränderung bedürften. Und die beginnt im eigenen Kopf. Doro Wiese

 

aus: analyse&kritik, Nr.456 vom 22.11.2001

Geschlecht wird gemacht

Film über Geschlechter- und Körperpolitik und den Zwang zur Normalität

(…)Der Fokus der Dokumentation „Das verordnete Geschlecht“ liegt auf den individuellen Erzählungen Reiters und Müllers, gleichzeitig werden ihren Geschichten Statements von Ärzten und Eltern gegenübergestellt, die nach wie vor überzeugt sind, dass eine frühzeitige Operation intersexueller Kinder notwendig sei, damit diese nicht als AußenseiterIn aufwachsen.

Die Stärke des Filmes liegt darin, dass er klar Partei ergreift für die Anliegen Intersexueller, ohne dabei jedoch bevormundend zu sein. Es gelingt den Filmemachern, Reiter und Müller als Subjekte zu porträtieren, die um die Anerkennung ihrer Identität als Zwitter kämpfen, und nicht als Opfer und Objekte medizinischer und gesellschaftlicher Zwänge. Der Film zeigt, wie schwierig die Suche nach Identität in einer Gesellschaft ist, in der Vorstellungen von Normalität notfalls auch mit Zwang und Gewalt durchgesetzt werden. Medizin und Justiz übernehmen. dabei die Rolle, die Einhaltung der Norm zu gewährleisten, indem AbweichlerInnen pathologisiert bzw. kriminalisiert werden. Mediziner, wie der in dem Film zu Wort kommende Professor Waldschmidt von der Kinderchirurgie Berlin, charakterisieren Intersexualität als Krankheit. Diese dubiose Krankheit manifestiert sich nicht durch Schmerzen, sondern durch Normabweichung. Für Waldschmidt sind „Mädchen, wo vorne der Penis rauskommt“, „Kinder, die keinen graden Strahl machen“, „die innerlich ein Männchen und äußerlich ein Weibchen sind“, zunächst und in erster Linie ein medizinisches Problem. Ein Problem, das jedoch chirurgisch gelöst werden kann.

Dass durch eine Operation das Problem eben nicht gelöst wird, zeigt die Geschichte von Reiter und Müller. Beide hatten, trotz ihres äußerlich eindeutigen Geschlechts, schon als Kind das Gefühl, irgendwie “ verkehrt“ zu sein. Nachdem sie jahrelang unter ärztlicher Kontrolle standen, haben sich beide aus den Fängen der Schulmedizin befreit. Mittlerweile leben Reiter und Müller mit und in ihrem mehrgeschlechtlichen Körper. Dies ist um so schwieriger, als viele der geschlechtsnormierenden Operationen, die im Kleinkindalter vorgenommen wurden, nicht rückgängig zu machen sind. „Die Hoden haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich bin“. sagt Elisabeth Müller. „Diese Klasse hätte ich gerne behalten. die gehört zu mir“.

Als Initiator der „Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie“ (www.aggpg.de) engagiert sich Michel Reiter für die Rechte von Intersexuellen. Ihm geht es darum. die medizinische Deutungsmacht über das, was Geschlecht zu sein hat, zu brechen. Aus diesem Grund hat Reiter einen Antrag an das Amtsgericht München gestellt, dass in seinem Pass als Geschlechtsbezeichnung „zwittrig“ stehen soll. Durch die Möglichkeit, sich als Zwitter eintragen zu lassen. wäre zumindest der formalrechtliche Zwang einer Geschlechtszuweisung aufgehoben. Der Antrag wurde im Oktober 2001 abgelehnt. Nach geltendem Recht könne das Geschlecht nur als männlich oder weiblich eingetragen werden, so die Urteilsbegründung.

„Für mich ist Sexismus die Herstellung von zwei Geschlechtern“, sagt Reiter. Der Kampf gegen die gewaltförmige Konstruktion von zwei Geschlechtern muss auf vielen Ebenen und nicht nur von Betroffenen geführt werden. Wie mächtig und allseits präsent der Zwang ist, Menschen in Mann und Frau zu kategorisieren, wird besonders dann deutlich, wenn sich Menschen eben nicht in dieses Muster einordnen lassen. Die medizinische und juristische Feststellung: „Es ist ein Mann – bzw. eine Frau“ wird erst durch tägliche Bestätigungen und Selbstvergewisserung zur gesellschaftlichen Realität. Der Film „Das verordnete Geschlecht“ zeigt, so der Filmemacher Oliver Tolmein, „wie wichtig es ist, dass in einer Gesellschaft nicht Normalität die Leitlinie ist, sondern Unterschiedlichkeit anerkannt und Gleichbehandlung sichergestellt wird.“